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Leseprobe – Band 3

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Leseprobe:

Der Ursprung der Ewigkeit, Band 3: Stigma

~ Alice ~

Ein Ellenbogen traf sie in die Seite, gefolgt von einer Aktentasche. Sie trat einen Schritt zurück, stieß dabei gegen ihren Hintermann, dessen vorstehender Bauch ihren Schwung etwas abfederte. U-Bahn-Fahren zur Rushhour war eine völlig neue Erfahrung für Alice. Das Gedränge, die Gerüche und unzählige Geräusche, alles an einem Ort und ohne die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, war die Herausforderung, der sie sich heute stellen wollte. Es war ihre Feuerprobe. Und die des Kristalls, der auf der Höhe ihres Herzens von ihrem Hals herabhing; dort, wo es vor Aufregung wild in ihrer Brust trommelte.

An der nächsten Station öffneten sich die Waggontüren, ganz wie es der Fahrplan vorgab, und genauso zuverlässig strömten die Passagiere hinaus und neue hinein. Alice beobachtete den stetigen Wechsel mit wogender Unruhe aus der Tiefe ihres Bauches heraus. Bis jetzt war alles ohne Zwischenfälle verlaufen. Doch jeder Neuankömmling ließ in ihr die Angst wachsen, dass der Kristall ihrem Fluch nicht standhielt. Womöglich brauchte es nur die eine starke negative Schwingung, um die Gegenkraft auszuschalten. Auf die Enge des Waggons heruntergerechnet, würde das fatale Konsequenzen haben. Sich in eine voll besetzte U-Bahn zu begeben, war – nach Wochen des Testens – die höchste Stufe, die sie bereit war zu gehen. In ihrer Hosentasche vibrierte ihr Smartphone. Unmöglich, dass sie es in der Enge in die Hand nahm, es blieb ihr kaum genug Platz, um den Ellenbogen zu beugen. Sie wusste, von wem die Textnachricht stammte, und Max würde sich bis zur nächsten Station gedulden müssen.

»Entschuldigung, würden Sie …? Es ist ein kleiner Ball. Meine Tochter hat ihn verloren.«

Alice folgte der Stimme der Frau, die irgendwo weiter vorn zu hören, aber von den umstehenden Personen verdeckt war. Etwas bewegte sich schlingernd im Fußbereich auf sie zu, dann sah sie sie: eine Frau auf den Knien, die offenbar nach etwas Ausschau hielt. Alice sah einen kleinen Ball auf sich zurollen und gegen ihre Stiefelspitze prallen.

»Es ist ihr Lieblingsball, und ich muss an der nächsten Station aussteigen. Wenn Sie ihn gesehen haben …«

Wie zum Signal setzte ein Kleinkind zu einem infernalen Brüllen an, als ihm wohl aufging, dass sein liebstes Spielzeug für immer verloren war.
Alice versuchte in die Knie zu gehen, was sofort mit einem Rempler quittiert wurde, der sie an der Schulter traf.

»Hey, pass doch auf«, kommentierte ein knurriger Brillenträger.

Dieser kleine Ausbruch an Aggression genügte für gewöhnlich, um Alice zum Rückzug zu bewegen. Dieses Mal aber ließ sie sich nicht beirren. Sie reichte hinab, bis ihre Finger den Ball griffen, und transportierte ihn in der Hand zu sich hinauf. Die kleine Lücke, die sich durch den Tumult gebildet hatte, nutzte sie eilig und zwängte sich bis zum Kinderwagen vor, vor dem eine junge Brünette mit zufriedener Miene auf sie wartete. »Vielen Dank«, sagte sie erleichtert.

Das Mädchen im Wagen zappelte aufgeregt und verlangte nach dem Ball. Alice übergab ihn ihr, was die Kleine mit einem freudigen Glucksen quittierte. Der Wagon kam zum Stehen, die Türen öffneten sich abermals. Alice sah, wie sich die junge Mutter damit abmühte, den sperrigen Kinderwagen über die Schwelle zu hieven, und fasste kurzerhand am anderen Ende an. Gemeinsam stiegen sie aus dem Waggon und ließen die Räder sanft auf den Betonboden gleiten.

»Es ist immer eine Qual, um diese Zeit U-Bahn zu fahren«, kommentierte sie etwas verlegen. »Die meisten ignorieren einen oder drehen sich genervt weg. Wenn sie unruhig wird, ist es am schlimmsten.« Sie nickte in Richtung ihrer kleinen Tochter, die fröhlich den Ball auf ihren Knien wippte.

»Kann ich mir vorstellen«, erwiderte Alice, während sich erneutes Vibrieren in ihrer Tasche bemerkbar machte.

»Also nochmals vielen Dank und einen schönen Tag für Sie.«

»Gern geschehen, Ihnen auch.«

Fast zeitgleich setzen sich U-Bahn und die junge Frau in Bewegung, und Alice entschied, sich endlich den Textnachrichten zu widmen.

|Soll ich dich abholen?
|Alles okay bei dir?

Es hatte etwas Beruhigendes, Max in der Nähe zu wissen. Auch wenn er nichts gegen eine Dysfunktion des Kristalls hätte ausrichten können, war es ein gutes Gefühl, jemanden, dem sie vertraute, bei sich zu wissen. Dass aus einem Verbündeten ein Freund geworden war, würde sicher auch Will gefallen.
Alice tippte eine Nachricht:

|Bin mit der U-Bahn unterwegs. Keine Zwischenfälle.

Sie verschickte die Nachricht und hob den Blick vom Display, sah vor sich auf das leere Schienenbett. Unerwartet mischte sich in die Freude darüber, dass der Kristall seine Funktion tadellos erfüllte, das schlechte Gewissen.

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